Prozesskompetenz – im Prozess oder inhaltlich befangen sein

Im Prozess sein heißt: im Hier und Jetzt – im Augenblick zu sein, ohne Gedanken an die Zukunft, Vergangenheit, eigene Probleme, Ziele usw. Thies Stahl stellte einmal die Frage, wann der Coach im Inhalt und wann im Prozess ist. Nach langem Grübeln und Diskutieren fand ich darauf keine Antwort, denn ich stellte fest, dass es keine klare Grenze zwischen Inhalt und Prozess gibt. Die Lösung kam, als ich den Denkrahmen verlassen und eine weitere Achse hinzugefügt habe. Es ist die Haltungsebene, d.h. welche innere Haltung habe ich und bin ich inhaltlich befangen oder im Prozess. Daraus ist folgendes Coachingviereck entstanden.

Coachingviereck

Die vertikale Ebene ist die Haltungsebene. Der Coach kann sich frei auf der horizontalen Ebene bewegen. Er kann auch Expertenrat geben, solange er im Prozess ist (im grünen Bereich). Der Prozessrat (Welches Format nehme ich?) kann ebenfalls zielführend oder blockierend sein. Auch hier hängt es von der inneren Haltung ab. Ist der Coach inhaltlich befangen, so führt selbst ein Prozessrat zum Stillstand des Prozesses.

Keine Prozesskompetenz – Inhaltlich befangen sein / sich nicht im Augenblick befinden

Da jeder Coach Mediator ein Teil des Systems ist, bleibt es nicht aus, dass er mal inhaltlich befangen wird. Jeder Coach hat dieses Phänomen schon erlebt. Der Prozess geht nicht voran. Egal was man sagt, die Haltung der Teilnehmer verändert sich nicht, die Bewegungen sind stereotypisch immer die selben, also vorhersagbar. Das kann folgende Gründe haben:

  • Der Teilnehmer erinnert den Coach unbewusst an eine ihm bekannte Person
  • Das inhaltliche Thema ist für den Coach persönlich ein ungelöstes oder schwieriges Thema
  • Der Coach macht sich Gedanken über die zukünftigen Geschäftsbeziehungen zwischen dem Teilnehmer und sich selbst: Wenn es schnell eine Lösung gibt, verliert er einen Kunden?
  • Der Coach meint zu wissen, was für den Klienten gut ist, und versucht, ihn dort hinzubringen
  • Der Coach ergreift Partei (in Mediationen oder Teamcoaching)
  • Der Coach ist unter Zeitdruck
  • Der Coach ist nicht der Überzeugung, dass der Teilnehmer sich verändern kann

und viele andere.

Welche Gründe fallen Ihnen ein? Was haben Sie schon erlebt?

Beobachtet der Coach einen Stillstand des Prozesses, so muss er seine inhaltliche Befangenheit aufdecken und transformieren. Dann kann er sich wieder voll und ganz dem Prozess widmen.

Ob der Coach inhaltlich befangen oder im Prozess ist, zeigt die Physiologie bzw. die Wahrnehmung (beim Klienten und beim Berater selbst).

Eine wichtige Überprüfung, ob jemand inhaltlich befangen ist, ist die erste Ökologiefrage  zu stellen: Was ist das Gute am Alten? Was ist das Gute am Thema oder am Signal? Wenn jemand inhaltlich befangen ist, z.B. beim Thema Aggression, weil er sie selbst ablehnt, so wird er nicht an die Ökologiefrage denken. Selbst wenn er sie stellen sollte, so wird ihm normalerweise nichts dazu einfallen.

Der Schritt ist nun, sich unbedingt Kontexte oder Situationen auszudenken, wofür es dort gut sein könnte – es soll ja gar nicht generell gelten.

Wenn das nicht hilft, so sollte das Thema bearbeitet werden, beispielsweise in einer Supervision oder im Coaching. Die inneren eigenen Teile geben ebenfalls Auskunft, ob man inhaltlich befangen ist. Sind körperliche Phänomene wie beispielsweise einsetzende Kopfschmerzen, ein Ziehen im kleinen Zeh oder anderes wahrnehmbar, ist es eine Hilfe, diese Symptome anzusprechen und nach deren Ursachen zu befragen. Oft erhält man dann eine Antwort, die ein wichtiges Hilfsmittel ist, sich aus der inhaltlichen Befangenheit zu befreien.

Um sich diese Fragen stellen zu können, ist Ruhe nötig. Falls Sie gerade im Coaching- oder Mediationsprozess sind, so sollten Sie diesen Unterbrechen, eine Kaffeepause einlegen und in dieser Zeit probieren, sich die Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, so dass Sie zurückfinden in den Zustand: „Im Prozess sein“.

Diese Prozesskompetenz ist ein Hauptteil unserer Systemischen Coaching Ausbildung und Coach-Mediator Ausbildung.

Prozesskompetenz als Voraussetzung für Erfolg

Prozesskompetenz oder im Prozess sein entscheidet darüber, ob Sie erfolgreich als Coach, Mediator oder Führungskraft agieren können. Aber nicht nur dort können Sie es erfahren. Genauso entscheidet im Sport dieser Zustand über Gewinn oder Niederlage.

Weitere Infos dazu in meinem Buch „Coachen und Führen mit System“

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